Die Großmutter erhält den Jungen und seine Schwester am Leben. Nachdem die Mutter den Jungen und seine Schwester noch keine acht Monate in ihrem Leib getragen hatte, gebar sie die beiden im kargen Haus zu Osselwitz, im Niederschlesischen. Es waren die ersten ihrer vier Kinder. Und als sie geboren waren, wogen ihre beiden Leiber ein erschreckend geringes Gewicht. Die Großmutter, durch ein karges Leben dazu gezwungen, die Lebenskraft von Tier und Mensch realistisch einzuschätzen, sagte zu der Mutter, nachdem sie die Säuglinge gesehen und zugleich nüchtern erwogen hatte: „Die konnste glei tot schloan, aus dän wird nischt“. Dennoch war es die Großmutter, welche wochenlang mit Kleie gefüllte Leinensäckchen im Ofen erwärmte und in einer notwendiger Regelmäßigkeit den Erstgeborenen auf den zerbrechlichen Leib legte. Dieserart erhielt sie die beiden warm und am Leben.
Lala. Alle im Dorf nannten sie Lala. Sie gehörte in das Haus hinter dem kleinen Teich, nahe bei dem, in dem der Junge und seine Familie wohnten. Lalas Geist war kaum gewachsen in ihren zwanzig Lebensjahren, er war verwirrt und entsprach dem eines kleinen Kindes. Misstrauisch und scheu, floh sie vor den Menschen des Dorfes. Dabei schlug sie ihre Arme durch die Luft wie ein Vogel seine Flügel. Dazu lallte sie einen irren Gesang, von dem der Junge nie wusste, ist es Lachen oder Weinen. Über diesem wilden Tanz der Lala flogen die Tauben im Hof erschrocken auf und der Hund bellte voll übermütiger Freude. Da sah der Junge manchmal, für einen Augenblick nur, ihren nackten Leib.
Die Rattenjagd. Mitunter bellte der Hund lange Zeit in der Nacht, weil eine Ratte, für ihn unerreichbar, auf dem Sims einer hohen Mauer den Mond beäugte. Die Ratten fraßen vom Futter der Schweine, deshalb trachtete der Vater des Jungen danach, sie zu jagen, als er, wenige Tage nur, für einen kurzen Urlaub aus dem menschenfressenden Krieg in Rußland entlassen war. Die Ratten zu erschlagen, wenn der Hund sie aus ihrer Hausung zwischen den Bohlen des Stallbodens heraus trieb, dazu stellte er den Jungen, bewaffnet mit einem hölzernen Prügel, in den engen Gang des Schweinestalles. Aber schon das zuerst gehetzte Tier suchte, in einem kühnem Sprung über die Schulter des Jungen hinweg, einen Weg aus der lebensbedrohenden Enge in die Freiheit des weiten Hofes. Darüber erschrak das Kind zutiefst. Sein Stolz, vom Vater als tüchtiger Rattentöter beansprucht zu sein, wich blankem Entsetzen. Und in panischer Angst floh es, auf dem gleichen Weg, den vor ihm schon die Ratte genommen.
Folterung eines Gefangenen. Zwei der gefangenen Russen, welche gezwungen waren, auf den Höfen des Dorfes die Arbeit von Vätern und Söhnen zu verrichten - welche zu jener Zeit für die Eroberung von mehr Lebensraum auf den Feldern des großen Krieges im Osten ihren Dienst tun mussten - waren entflohen. Deshalb, durchsuchten einige der Alten des Dorfes, unter der bedachtsamen Leitung des zuständigen Schupos, eilfertig und beflissen die das Dorf umgebenden Wälder nach den Flüchtigen. Darunter auch ein Onkel des Jungen, welcher sein Weib schlug, und zu Ehren des großen Führers in der Wand seiner Scheune ein Hakenkreuz, aus Ziegeln gemauert, errichten ließ. Aber sie fanden nur einen der Entflohenen im dichten Geäst eines hohen Baumes. Den banden sie und trieben ihn unter Schlägen zurück in den amtlich verordneten Raum für die Gefangen, im gemeindlichen Hause des Dorfes. Dort hielten sie ein Verhör; zu diesem Zweck schlugen sie den Gefangenen erneut mit Prügeln und Fäusten. Der Hakenkreuzonkel aber tat dies, in eifriger Erfüllung der ihm von seinem Führer auferlegten Pflicht, mit dem Kolben eines Gewehres. Sie zerrissen darüber sein Gewand und spuckten ihre quälenden Fragen in sein Gesicht. Durch die offene Tür sah der Junge, unbemerkt von den Folterknechten, diese hasserfüllte Zurichtung eines Menschen. Darauf rannte er zu seiner Mutter und sprach zu ihr, weinend und aufgewühlt, vom blutigen Geschehen in dem Raum für die Gefangenen, im Hause der Gemeinde. Da kam die Angst vor der Allgewalt des tyrannischen Führers auch in seine Mutter. Und in befehlendem Ton sprach sie zu dem Jungen: Wo treibst du dich herum! Du hast das alles nicht gesehen! Das geht uns nichts an! Du hast darüber zu schweigen! Oder willst du, dass wir alle ins Unglück geraten? Der Junge verstand die Worte der Mutter nicht. Sein Erschrecken über das Unbegreifliche wandelte sich langsam in tiefe Trauer, und bis heute ist er davon nicht frei geworden.
Trauer über den Verlust des Vaters. Es geschah an einem Mai-Abend des Jahres 1944. Mutter und Großmutter versorgten, kurz vor dem Feierabend, noch die beiden Kühe im engen Stall und der Junge tränkte das Kalb. Da traf die Nachricht darüber ein, dass sein Vater, der schon vier Jahre lang gezwungen war, im großen Krieg gegen Rußland für mehr Lebensraum zu kämpfen, vermisst werde. Dies hätte sich zugetragen in einem verlustreichen Kampf um die Stadt Sewastopol, auf der Halbinsel Krim, am Schwarzen Meer des sowjetischen Landes. Der Große Führer dankte dem Vater für seine Treue zum Vaterland und dafür, dass er zu einem baldigen Sieg des deutschen Volkes über seine Feinde beigetragen habe. Da kam eine große Trauer über die Frauen im Stall und sie weinten laut an ihrem Platz. Der Junge aber verbarg sein Gesicht im warmen Fell des Kalbes, und es wurde feucht von seinen Tränen.
Arbeit an des Vaters Statt. Als der Junge langsam älter wurde, sagte man ihm immer öfter, dass er jetzt die Pflicht habe, so gut er es vermöge, an der Stelle seines Vaters auf den Feldern zu arbeiten. Seine Mutter spannte ihm die alte Kuh vor den Ruhrhaken, denn diese war gutmütig, und trug ihm auf, das Unkraut zwischen den Furchen des Feldes aus der Erde zu pflügen. Die Kuh ging langsam und willig ihren Gang, aber der Ruhrhaken war schwer und er musste am Ende jeder Furche aus der Erde gehoben und am Beginn der neuen wieder aufgesetzt werden. Aber am Abend strich die Mutter dem Jungen sanft über sein verschwitztes Haupt und sagte, dass sie stolz auf ihn sei, und dass sie dies auch dem Vater sagen werde, wenn er aus dem großen Krieg wieder nach Hause käme. Aber der Vater kam nicht mehr nach Hause. Er liegt, wohl für immer, auf dem Grund des tiefen Meeres.
Flucht. Der Tag des 25. Januar, in dem Jahre 1945, war eisig kalt und es lag viel Schnee im östlichen Teil Niederschlesiens, in dem das Dorf Osselwitz seinen Ort hatte. An diesem Tag wurden die Mütter, durch einen Stellvertreter des allmächtigen Tyrannen und obersten Feldherrn, Adolf Hitler, angewiesen ihr Dorf zu verlassen, um sich und ihre Kinder vorübergehend nur vor der heranrücken den Front der sowjetischen Untermenschen in Sicherheit zu bringen. So begann an diesem Tag, auf dem gedeckten Fuhrwerk der Nachbarsleute, die notvolle Flucht des Jungen, seiner Mutter und seiner drei Schwestern. Die Alten sollten vorerst noch im Dorf bleiben, das Vieh zu versorgen. So blieb auch noch die Großmutter des Jungen. Aber, schon am vierten Tag der Flucht, suchten die Nachbarn ihr Ziel, an einem Ort, wo es für den Jungen und seine Familie keine Beherbergung geben konnte. Deshalb waren sie gezwungen, die schützende Deckung des Wagens zu verlassen und sich in die eisige Kälte der offenen Straße zu stellen. Ebenda, zu dieser Stunde, brachte man auch die Alten wieder zu ihren Familien. So froren dort sechs Menschen, aber sie hofften darauf, einer der vorbeiziehenden Fuhrleute werde anhalten und wenigstens die Hilflosesten unter ihnen - das Kleinkind und die gebrechliche Greisin - auf seinen Wagen laden. Deshalb empfanden sie es als ein großes Glück, dass ein gütiges Schicksal endlich - wohl in der vierten Stunde des langen Wartens in der großen Kälte - ihnen den ältesten Sohn der Großmutter begegnen ließ, den Onkel der Kinder und Schwager der Mutter. Und - obwohl auf seinem geräumigen Wagen, vor den zwei kräftige Pferde gespannt waren, außer seinem keifenden Weib, seiner schon erwachsenen Tochter, auch noch vorsorglich allerlei Gepäck und brauchbares Gerät geladen war, so hatte sich darauf doch noch reichlich Platz gefunden, für jene, die da am Rand der Straße standen. Allein die Güte und Barmherzigkeit sollte der Onkel haben, seine Mutter - die achtzigjährige Greisin - und das fünfjährige Kind auf seinen Wagen zu lassen. Die anderen - das versprach die Mutter - wollten ja gern neben dem Wagen herlaufen. Jedoch der Onkel hatte diese Güte nicht und nicht das geringste Mitleiden mit seiner gebrechlichen Mutter. Vielmehr trieb er seine Pferde mit der Peitsche, einzig zu dem Zwecke an, schnell und ohne ein Wort, von denen, die da frierend am Rande der Straße standen, wegzukommen. Erst Stunden später, fand sich ein barmherziger Mensch dazu bereit - für eine begrenzte Zeit nur - auf seinem Wagen den notwendigen Platz für das jüngste unter den vier Kindern der Familie und ihr geringes Gepäck bereitzustellen. Die anderen mussten hungrig und frierend neben dem Wagen laufen. Aber der eisige Wind konnte fortan nur noch nur vermindert zu ihnen. Und es waren diese Umstände, welche es unabänderlich machten, die Großmutter - zu tagelangem Laufen auf schneereicher Straße nicht mehr in der Lage - in der eisigen Kälte der Straße allein zulassen. Langsam sah der Junge Ihre gebeugte Gestalt im hellen, winterlichen Grau des gefrorenen Nebels versinken, darüber wurde er voll Trauer, aber seine Tränen fühlte er warm in dieser großen Kälte.